Um das Thema Vorhaltemaße ranken sich viele Mythen. Jeder hat ein eigenes Maß für den Vorhalt auf Wild bei einer Drückjagd, was maßgeblich auf den eigenen Erfahrungen beruht. Besonders für Jungjäger ist dies am Anfang häufig recht schwierig. Wie kann ich also mein eigenes Vorhaltemaß bestimmen und lernen es anzuwenden? Diesen Fragen möchten wir im folgenden Artikel auf den Grund gehen und beispielhaft erklären wie man es praktisch umsetzen kann.
Bevor wir uns der praktischen Frage nähern, wie viel Vorhalt für welches Wild notwendig ist, müssen wir uns zuerst etwas mit der grauen Theorie beschäftigen. Was ist der Grund dafür, dass man beim Schießen auf ein bewegliches Ziel, vorhalten muss? Hierfür gibt es zwei wesentliche Ursachen.
Der Schütze benötigt Zeit, um auf das herannahende Wild zu reagieren, in den Anschlag zu gehen und letztendlich benötigt er einige Millisekunden für das Abkrümmen selbst. In der Zeit, die der Schütze für das Abkrümmen benötigt, bewegt sich das Ziel je nach Geschwindigkeit, einige Millimeter oder sogar Zentimeter voran. Der zweite Grund ist die Tatsache, dass sich das Ziel ebenfalls fortbewegt, während sich das Geschoss auf seiner Flugbahn befindet. Diese Dauer ist abhängig vom Abstand des Schützen zum Ziel und der Geschossgeschwindigkeit beeinflusst. Die Zeit für das Abkrümmen kann man in der jagdlichen Praxis vernachlässigen; entscheidend ist viel mehr die Zeit, die sich das Geschoss in der Luft befindet.
Kenngrößen von Vorhaltemaßen
Wir nutzen drei wichtigste Kenngrößen für die Berechnung des Vorhaltes. Die Fortbewegungsgeschwindigkeit des Ziels, Abstand des Schützen zum Ziel und die Geschwindigkeit des Geschosses. Die am einfachsten zu ermittelnde Kenngröße ist die Geschossgeschwindigkeit, meistens steht diese auf der Munitionsverpackung. Den Abstand des Schützen zum Ziel muss man schätzen, genauso wie die Fortbewegungsgeschwindigkeit des Ziels. Für das Schätzen von Abständen gibt es diverse Methoden, die wir im oben verlinkten Artikel erklären. Das Schätzen von Geschwindigkeiten ist schon wesentlich anspruchsvoller. Die effektivste praktische Methode ist es, sich die Bewegungsbilder von flüchtigem, trollendem sowie ziehendem Wild und die dazugehörigen Geschwindigkeiten einzuprägen, das heißt auswendig zu lernen. Eine deutlich anspruchsvollere aber auch genauere Methode, wäre das Ermitteln der Geschwindigkeit nach der 21-Methode. Das dies in diesem Rahmen zu umfangreich ist, werden wir sie in einem gesonderten Artikel beleuchten und reduzieren uns hier auf das Lernen der Richtgeschwindigkeiten.
Ermittlung der Kenngrößen in 3 Schritten
Beginnen wir mit dem Schätzen der Geschwindigkeiten von Schalenwild. Auf der nebenstehenden Tabelle sehen Sie einen groben Anhalt für die Geschwindigkeiten der Stücke und den ungefähren Maßen. Dies sind selbstverständliche nur Richtwerte, jedoch kann man mit diesen Werten aus Jagdpraktischer Sicht gut rechnen. Das reine Schätzen der Geschwindigkeiten ist ein reiner Erfahrungswert. Ältere Waidmänner haben dies durch jahrelange Erfahrung gelernt einzuschätzen. Heute gibt es dafür auch andere Methoden, um jagdlich relevante Geschwindigkeiten von Schalenwild auf einer Drückjagd schneller lernen zu können.
Wir haben ein Video herausgesucht, welches eine kleine Rotte Wildschweine zeigt. Das Video stammt aus einem Schießkino und stellt eine mögliche Jagdszene auf eine Drückjagd dar. Anhand dieses oder ähnlicher Videos können Sie die Bewegungsmuster von Wild erlernen, um schneller die Geschwindigkeiten von Wild zu ermitteln. Dadurch können Sie sich ein jagdpraktisches Bild einprägen, was Ihnen auf der Drückjagd im Herbst Vorteile bringen wird.
Der Nächste Schritt ist das Schätzen der Entfernung zum Wild. Idealerweise haben wir bereits vor Beginn der Jagd unseren Stand vermessen und kennen die Entfernungen zu den wahrscheinlichsten Wechseln. Wenn nicht sind wir gezwungen eine der unzähligen Schätzmethoden anzuwenden, die vorher geübt worden sein müssen.
Im letzten Schritt ermitteln wir die Geschwindigkeit unseres Jagdgeschosses. Diese steht meistens auf der Verpackung. Vorsicht, die Geschossgeschwindigkeit auf der Packung ist oft die V0, im Verlauf des Fluges verliert das Geschoss stätig an Geschwindigkeit ab. Dadurch ergeben sich die unterschiedlichen Flugzeiten auf zunehmende Entfernungen. Aus diesem Grund ist es einfacher die Geschossflugzeiten für ihre Jagdmunition auf die verschiedenen Entfernungen auswendig zu lernen. Wir haben dies exemplarisch in der Abbildung für unsere Standard .308 Win dargestellt. Für die jeweilige Entfernung zum Wild nutzen wir dann der Einfachkeit halber die Geschossflugzeit, die unserer ermittelten Entfernung am nähesten kommt.
Errechnen der Vorhaltemaße
Mit den so ermittelten Grunddaten lässt sich auf einfache Art und Weise der persönliche Vorhalt ermitteln. Formel:
Geschwindigkeit des Wildes in m/s x Geschossflugzeit in s = Vorhalt in m
Beispiel 1: Wir nehmen unsere Standard .308 Win, laut ballistischen Rechner hat diese eine Geschossflugzeit von 0,05 s auf eine Entfernung von 45 m. In unserem Vorfeld bewegt sich eine grobe Sau hochflüchtig (45 km/h) in einer Entfernung von 45 m quer zu unserem Stand. Wie groß ist der Vorhalt?
45 km/h / 3,6 = 12,5 m/s (zunächst Umrechnung der Geschwindigkeit des Stückes in m/s)
12,5 m/s x 0,05 s = 0,625 m (Vorhalt in m)
Der Schütze muss ca. 62cm vorhalten!
Beispiel 2: Wir wissen, dass unsere Standard .308 Win eine Geschwindigkeit von 820,7 m/s auf 100 m hat. Das Stück bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h in 100 m Entfernung quer zu unserem Stand. Wie groß ist der Vorhalt?
100 m / 820,7 m/s = 0,121 s (zunächst Ermitteln der Geschossflugzeit in s)
25 km/h / 3,6 = 6,94 m/s (Umrechnen der Geschwindigkeit des Stückes in m/s)
6,94 m/s x 0,121 s = 0,84 m (Vorhalt in m)
Der Schütze muss ca. 84cm vorhalten!
Auf diese Weise kann man den persönlichen Vorhalt auf die Entfernungen 30 m, 50 m und 70 m für die drei verschiedenen Geschwindigkeiten Flucht, Troll und Ziehen ermitteln. Die so ermittelten Daten müssen natürlich auf dem Schießstand bestätigt werden und sollen durch ständiges Üben in Fleisch und Blut übergehen. Danach hat der Schütze grobe Vorhaltemaße ermittelt an denen er sich orientieren kann. In der Praxis wird er weder Zeit haben dies zu vermessen, noch zu errechnen, sondern muss sich auf seine intuitiven Vorhaltemaße verlassen. Der Hegering Schwelm hat auf seiner Homepage einen Vorhalterechner installiert, so dass jeder die Rechenschritte nicht merh selber vollziehen muss.
Nutzen von Absehen zum Vorhalt
Doch woher weiß ich, wo genau ich anhalten muss, um einen Vorhalt von xy cm zu haben? Nun, zum einen kann man durch häufiges Üben ein Gefühl für die entsprechenden Vorhalte erlangen. Wer jedoch keine LKW-Ladung Munition verschießen will, kann ein paar Hilfsmittel anwenden. Eine Möglichkeit ist die Nutzung eines ballistischen Absehens. Auf unseren Seminaren fragen wir gerne wer aus der Jägerschaft ein ballistisches Absehen hat. Meistens schauen alle sehr betroffen oder schütteln mit dem Kopf. „So etwas braucht man nicht!“ ist meistens die Aussage. In Wirklichkeit hat aber jeder Jäger ein ballistisches Absehen, denn im Grunde genommen kann man jedes Absehen verwenden um Vorhaltemarke zu ermitteln.
Konzentrieren wir uns auf unser deutsches Lieblingsabsehen, das Absehen 1. Wie Sie auf der Abbildung 2 erkennen können besteht das Absehen 1 aus zwei Querbalken und einen Zielstachel. Wir haben exemplarisch für alle Hensoldt-Absehen 1, die sich in der ersten Bildebene befinden, die Maße in Strich eingetragen. Diese Maße können Sie als Vorhaltemarken benutzen.
Beispiel 3: Wir haben eine grobe Sau, die in einer Entfernung von 100 m an uns vorbeizieht (ca. 10 km/h). Für den Schuss benutzen wir die Standard .308 Win, wie oben in der Tabelle dargestellt.
10 km/h / 3,6 = 2,8 m/s (Geschwindigkeit des Wildes in m/s)
2,8 m/s x 0,121 s (Geschossflugzeit auf 100 m) = 0,35 m
Der Schütze muss ca. 35cm vorhalten!
Praktischerweise ist der Abstand zwischen dem Ende eines Querbalkens des Absehens 1 und dem Zielstachel 3,5‘ und 3,5‘ sind 35 cm auf 100 m. Sprich bei einem querbeweglichen Ziel, welches sich von rechts nach links bewegt, muss man mit dem linken Ende des rechten Querbalkens dort anhalten, wo man Treffen möchte und der Schuss trifft.
Die wichtigsten Grundannahmen für das Ermitteln des Vorhalts beim Büchsenschuss auf querbewegliche Ziele haben wir abgedeckt. Nun ist es im wahren Leben nicht immer so einfach wie in unseren Beispielen. Im Normalfall läuft Wild nicht in einem exakten 90° Winkel an uns vorbei, sondern es entstehen Winkel zwischen 0° und 90°. Wie viel Vorhalt benötige ich in diesen Fällen? Erinnern wir uns mal zurück an die Grafik aus dem Artikel zur Winddrift, die den Einfluss des Windes auf die Abdrift des Geschosses zeigt. Diese Grafik kann man im gleichen Maße auf den Einfluss des Windes wie auf das Vorhaltemaß anwenden. Bewegt sich ein Stück gerade auf uns zu, also in einem 0° Winkel, benötigen wir keinen Vorhalt.
Bewegt sich ein Stück in einem 90° Winkel vor uns, benötigen wir den vollen berechneten Vorhalt; und bewegt sich ein Stück im 45° Winkel auf uns zu, so müssen wir den halben errechneten Vorhalt benutzen. Wer es ganz genau machen will, geht nicht nach Winkelmaßen, sondern nimmt die Prozentangaben der Uhrzeiten und multiplizierte diese mit dem errechneten Vorhalt.
Den Vorhalt praktisch üben
Anhand dieser Methoden lassen sich für jeden Jäger individuelle Vorhaltemaße bis zu Drückjagdsaison als Richtwerte errechnen. Es sind Richtwerte, weil Sie die genaue Ablage nie Zentimetergenau auf den Wildkörper in der Praxis übertragen. Diese Werte können sie sich jedoch aufschreiben oder in einer Kreistabelle mit den jeweilien Entfernungen, Winkeln und Geschwindigkeiten festhalten. Damit können Sie lernen und beginnen Erfahrungen zu sammeln.
Zum Schluss müssen Sie diese Erfahrungen aus errechneten Vorhaltemaßen und den Möglichkeiten Ihres Absehens in die Praxis und auf den Wildkörper übertragen. Dazu sollten Sie sich die Frage stellen, was ein Vorhaltemaß anatomisch gesehen bedeutet. Als Beispiel soll hier der laufende Keiler eines Schießstandes dienen, den ein Jeder kennt. Wollen Sie diesen im Leben (kurz Hinter Blatt) treffen, müssen Sie Ihren Vorhalt grob unterhalb der Teller legen. Diese Erfahrungen kann man man projiziert auf unterschiedliche Jagdsituationen sehr gut im Schießkino lernen. Vor der Drückjagdsaison sollte daher eine Trainingseinheit in Erwegung gezogen werden.
Wenn der Bedarf besteht Vorhaltemarken für andere Absehen oder Absehen in der zweiten Bildebene zu ermitteln, schreiben Sie einfach einen Kommentar und wir werden das Vorgehen erläutern. Hoffentlich konnten wir für Einige Licht ins Dunkle bringen, wir freuen uns auf Ihre Fragen und wünschen Waidmannsheil für die nächste Drückjagd.
1 Winkelminute auf 100m entspricht ca. 2,9 cm.
Wie kommt Ihr auf 35 cm für 3,5′ ?
Hallo „ein Leser“,
3,5′ beudeutet 3,5 Strich und gemeint ist damit das Artilleriepromille. Dabei entsprechen 6400 Strich 360°; somit decken 1′ auf 1km Entfernung 1m Bogenlänge ab. Gekürzt auf 100m deckt 1′ eine Bogenlänge von 10cm ab. https://de.wikipedia.org/wiki/Strich_(Winkeleinheit)
3,5′ decken auf 100m eine Bogenlänge von 0,1 x 3,5′ = 0,35m ab.
P.S.: Kommentare, bitte mit richtigem Vornamen und einer bestehenden Mail-Adresse.
Hallo,
gerade für die Herausforderung, den richtigen Vorhalt zu erwischen, habe ich die Dreipunktschießtechnik entwickelt – von den Grundlagen das Gleiche wie hier, nur dass wir die Entfernung und das Berechnen des Vorhaltemaßes uns ersparen – denn wir schießen mit dem Vorhaltewinkel, der für alle Entfernungen gleich ist – und den wir nur für Bewegungsgeschwindigkeit und Richtung anpassen müssen.
Das funktioniert mit Standard-Dreipunktvisieren sehr gut, weil die Höchstfluchtgeschwindigkeiten bei europäischem bodengebundenem Wild alle bei 50 km/h liegen und wir die Geschwindigkeit aus dem Bewegungsbild des Wildes ableiten können. Rechnen ist also nicht wirklich angesagt.
Näheres auf meiner Homepage, erreichbar über http://www.flintenflüchtigvisier.de, dort wird die Technik auch umfassend dargestellt und auch eine FAQ-Seite gibt es.
Für Rückfragen stehe ich gern zur Verfügung.
Waidmannsheil
Christian
Hallo Christian,
das ist ein sehr interessantes Visier, welches Ihr entwickelt habt. Vielleicht können wir es in Zukunft ja mal ausprobieren.
Mit freundlichen Grüßen
Michael
Hallo Michael,
vielen Dank für das Kompliment und sehr gerne könnt Ihr es ausprobieren, es funktioniert bei der Flinte – wenn auch eigentlich nur für die Jagd entwickelt – auch auf dem Skeet-Stand, weshalb es auch schon in Jagdschulen eingesetzt wird, die diese Disziplin in der Prüfung absolvieren müssen. Richtigen jagdlichen Einsatz, besonders mit wechselnden Entfernungen, Geschwindigkeiten und Bewegungsrichtungen des Stückes können wir für Tests nur simulieren, aber das geht auch und wir haben dazu auch einen kleinen Testbericht auf der Homepage hinterlegt. Hier zeigt das Dreipunktkonzept seine Stärke, vor allem gegen jeden auf Tontaube fixierten Meisterschützen.
Meine ZF für DJ habe ich auf das Konzept umgestellt, damit fühle ich mich auch erheblich sicherer.
Schickt Ihr mir einfach eine E-Mail, wohin ich ein solches FFV für BDF Kaliber 12, nehme ich an, schicken soll.
Waidmannsheil
Christian Volquardts